31/03/2022

Schadenserkennung in Abwasser-Kanalisationen

Automatisierte Erkennung von Schäden und Objekten in Abwasser-Kanalisationen mit künstlicher Intelligenz

 

Abb.1: Automatisch erkannte Ablagerungen am Grund in einer Kanalisation (Bild Abwicklung der Kanalisation)

 

Die Optimierung und Effizienzerhöhung der Abwasser-Kanalinspektion und -revision ist ein wichtiges Thema unserer Gesellschaft. Die Ingenieurunternehmung Basler & Hofmann AG hat sich in Zusammenarbeit mit der LeanBI AG der Herausforderung angenommen.

 

Und um das Fazit des Artikels vorwegzunehmen: Künstliche Intelligenz (KI) erhöht massiv die Effizienz, Ingenieure und Experten müssen dabei aber trotzdem nicht eingespart werden. KI hilft den Experten, Ihre Arbeit qualitativ besser auszuführen, womit ein hohes Kosteneinsparpotential einhergeht. Doch dazu später.

 

Die Gesamtlänge öffentlicher und privater Abwasser-Kanalisationen in der Schweiz beträgt über 100’000 km. Der Wiederbeschaffungswert wird nach «Die Volkswirtschaft» [1] auf gesamthaft 114 Mrd. CHF geschätzt. Prinzipiell ist die mittlere Lebensdauer der Schmutzwasserleitungen von ca. 70 Jahren hoch [2]. Aber Fachleute gehen von einem erhöhten Investitionsbedarf aus, da viele Leitungen in den 60-iger bis 80-iger Jahren gebaut wurden, gemäss «die Volkswirtschaft» [1] kommen über die nächsten 30 Jahre die Werterhaltungskosten gesamthaft bei rund 130 Milliarden Franken zu liegen. Damit liegen wir im Schnitt pro Jahr bei 4.3 Mrd. CHF Erhaltungskosten. Die Werterhaltung des Kanalnetzes liegt nach [3] heute zwischen 50 und 400 CHF pro Jahr und Einwohner und weist damit eine hohe Bandbreite auf. Bei einer Bevölkerungszahl von 8.7 mio. Einwohner der Schweiz weist diese Zahl in der Tat darauf hin, dass die gesamte Werterhaltung mit einer starken Kostenzunahme in den nächsten Jahren einhergehen wird.

 

Mindestens die öffentlichen Kanalisationen sollten alle 10 bis 15 Jahre auf deren Zustand untersucht werden. Angeblich sollen Studien aufzeigen, dass rund 20% der Abwasserkanäle unnötigerweise erneuert und 15% nicht rechtzeitig saniert werden. Eine qualitative Verbesserung des heutigen Monitorings von Abwasserkanälen schätzen wir auf 10% der 4.3 Mrd. CHF, also Einsparungen von jährlich 430 Mio. CHF pro Jahr in der Schweiz im Schnitt über die nächsten 30 Jahre. Wir sind überzeugt, dass diese Einsparungen erreichbar sind, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

 

Für die Untersuchungen der Abwasserkanäle sind heute zwei Systemprinzipien im Einsatz:

 

  • Konventionelle Videokameras, die sich durch den Kameraführer bei Vermutung eines Schadens abschwenken lassen. In einer Software werden dann die Schäden direkt vom Operateur dokumentiert.

 

 

Abb. 2: Beispiel iPEK Spezial-TV, Fahrwagen für Rohrdurchmesser 250 – 1000 mm aus Wikipedia

 

  • Pano-Scan Technologie mit zwei Fischaugenkameras, die alle 5 cm ein Bild schiessen, aus denen sich ein 3D-Bild entlang der Kanalisation erzeugen lässt.

 

 

 

 

Abb. 3: Beispiel IBAK PANORAMO 4K, Kamerasystem / 3D-Scanner, Einsatzbereich ab DN 200

 

Der weitaus grösste Teil der öffentlichen Kanäle weist Durchmesser zwischen DN 200 und DN 1800 auf, wo die Pano-Scan Technologie einsetzbar ist.  Die Pano-Scan Technologie weist den Vorteil auf, dass die Schadensinspektion nicht vor Ort, sondern nachträglich an einem «digitalen Zwilling», einem 3D- Panoramabild der Kanalisation ausgeführt werden kann. Mit dieser Technologie wird neben dem verbesserten Inspektionsvorganges eine digitalisierte und rückverfolgbare Datenbasis für zukünftige Sanierungen bereitgestellt.

 

Die Pano-Scan Aufnahme vor Ort im Kanal erfolgt ohne Stopps und ist entsprechend schnell aufgezeichnet und gut im Voraus planbar. Die Fehlerquote der Erkennung von Schäden reduziert sich gegenüber der konventionellen Technologie, da ein geschulter Experte nicht vor Ort, sondern nachträglich am Computer die Inspektion ausführt. Dafür stehen heute verschiedene Software-Lösungen zur Verfügung. In der Schweiz weit verbreitet ist die Lösung KINS der Firma Kanalinformatik GmbH, die auch in diesem Projekt angewendet wurde.

 

Trotz des grossen Fortschritts der Pano-Scan Technologie bleibt es ein Kraftakt, die vielen Kanalisationskilometer (geschätzt 7’000 km/Jahr) manuell am Büro-Arbeitsplatz zu inspizieren. Die Inspektion findet in einer Kombination direkt am 3D-Bild und der Abwicklung der Kanalisation statt. Im 3D-Bild ist die Perspektive frei wählbar, sodass auch schwierige Objekte wie Wurzeleinschlüsse besser erkennbar werden. Die Qualität der Inspektion ist und bleibt trotz neuer Kameratechnologie eine Frage der Erfahrung und Konzentration des eingesetzten Experten. Verbunden mit dem manuellen Aufwand kommt hinzu, dass die Bewertungen und auch Klassifizierungen der Schäden teils grosse subjektive Freiheiten zulässt und somit die Zustands- und Schadenserkennung von der analysierenden Fachperson abhängig ist. Solche Subjektivität konnten wir auch in unseren statistischen Auswertungen über verschiedene Gemeinden feststellen.

 

Eine automatisierte Auswertung des aufgenommenen Datenmaterials führt dagegen zu einer verbesserten und konstanten Monitoring-Qualität durch Minimierung von Fehlern aufgrund Ermüdung, Unwissen (ungenügende Ausbildung) oder Übersehen von Schäden. Sprich, die Subjektivität wird weitestgehend ausgeschlossen.

 

Basler & Hofmann AG hat im Jahr 2020 die LeanBI AG beauftragt, Machine Learning Modelle für die automatisierte Erkennung von Schäden und Verschmutzungen in Abwasserkanälen zu entwickeln. Solche Modelle werden heute auch als künstliche Intelligenz bezeichnet.

 

 

 

Als international tätiges Ingenieurbüro mit Hauptsitz in der Schweiz, erbringt Basler & Hofmann AG Dienstleistungen für die Planung und Erhaltung, insbesondere Zustandserfassungen und Inspektionen, von Infrastrukturbauwerken und kennt die Bedürfnisse und Anforderungen der Kanalisationsbetreiber. Basler & Hofmann setzt selbst Ingenieure ein, um die Schäden in den Kanalisationen auszuwerten.

 

Für das Projekt wurde ein Team von Ingenieuren der Basler & Hofmann, Data Scientist der LeanBI und Fachexperten gebildet, um die Automatisierung der Schadenserkennung voranzutreiben. Es wurden grosse Mengen an Bildmaterial von grossen und kleinen Land- Gemeinden, sowie von Städten statistisch ausgewertet. Die etwa 200 Schadenskategorien der VSA (Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute) Richtlinie wurden derart geclustert, dass sich in Zukunft 95% der Schadensfälle und Verschmutzungen automatisiert mit künstlicher Intelligenz erkennen lassen.

 

Abb. 4 zeigt eine schematische Darstellung des manuellen Annotations-Prozesses beschädigter seitlicher Anschlüsse: Die relevanten Markierungen werden auf den Bildern mit einem Annotations-Tool pixelgenau markiert. Diese Markierungen werden anschliessend exportiert und klassenweise zu binären Masken zusammengefasst. Zusammen mit den Abwicklungsbildern bilden diese Masken die Grundlage für die Trainingsdaten.

 

 

 

Abb. 4: Manueller Annotationsprozess in der Abwicklung eines Abwasserkanals

 

Auf der Grundlage der manuellen Annotationen wurden dann die Machine Learning Modelle trainiert. Im Unterschied zu bereits bestehenden Lösungen entschied das Projektteam die sogenannte «Machine Learning Image Segmentation» anzuwenden, also ein pixelgenaue Defekterkennung des Objektes oder Schadens. Die Machine Learning Modelle detektieren damit die genaue Form der Defekte, dies im Unterschied der wenigen heute am Markt verfügbaren Lösungen, die meistens «Bounding Boxes» um die die Objekte legen. Illustrieren wir die Segmentierung an einem Beispiel anhand eines in Abb. 5 dargestellten unvollständig eingebundenen Anschlusses.

 

 

 

Abb. 5: Bild eines seitlichen Anschlusses «unvollständig eingebunden

 

In der automatisierten Erkennung mit künstlicher Intelligenz nach Abb. 6 wird sowohl der Anschluss (grün), als auch der Schaden (rot) gekennzeichnet. Das vermittelt sofort eine visuelle Darstellung über die Schwere des Schadens.

 

 

Abb. 6: Seitlicher Anschluss unvollständig eingebunden

 

Der Vorteil der «Machine Learning Image Segmentation» ist, dass die Geometrien der Schäden und Verschmutzungen über die Pixelinformationen ausgewertet werden können. Diese Auswertungen können dann als Informationen dem Ingenieur direkt oder nachgeschalteten Applikationen zur Verfügung gestellt werden. Damit können Schweregrade der Schäden sehr viel besser erkannt werden.

 

Ein weiterer Vorteil der «Machine Learning Image Segmentation» liegt darin, dass für das Trainieren der Modelle weniger manuelle Annotationen benötigt werden. In unserem Projekt haben wir trotzdem weit mehr als 1000 solche manuellen Annotationen ausgeführt.

 

Andererseits ist gerade die Kernkompetenz der LeanBI, auch mit wenig Trainingsdaten bereits hochwertig Machine Learning Modelle zu erzeugen. Neben der Auswahl der Modelle spielt dabei das sogenannte «Augmentation», also das künstliche Erweitern des Bildmaterials zu Trainingszwecken eine entscheidende Rolle.

 

Einen Nachteil des «Machine Learning Image Segmentation» wollen wir aber nicht verschweigen. Die manuelle Annotation muss sehr genau ausgeführt werden, sonst funktioniert die künstliche Intelligenz nicht gut genug. Deshalb haben wir alle Annotationen intern im Projekt durch Fachpersonen umgesetzt und bewusst keine externen Kräfte genutzt.

 

Ziel des Projektes war, einen «Recall» von nahezu 100% zu erhalten. Das bedeutet, dass uns innerhalb der definierten Schadensklassen keine Schäden bzw. Verschmutzungen durch die Lappen gehen. Denn Schäden nicht zu detektieren ist weitaus problematischer als ab und zu einen Schaden fälschlicherweise auszuweisen. Dann kann der Ingenieur einen solchen «False Positive» im Inspektionsprozess durch einen Tastendruck einfach löschen. Das Ziel haben wir für verschiedenen Schadensklassen erreicht, einige andere wird die künstliche Intelligenz über die Zeit erlernen, da ja die Ingenieure kontinuierliches Feedback in die Applikation zurückgeben.

 

Und hiermit wären wir wieder beim Thema, wie die künstliche Intelligenz den Ingenieur unterstützt. Der Ingenieur soll sich auf die schwierigen und seltenen Fälle wie Wurzeleinschlüsse oder Infiltrationen konzentrieren, bei den häufigen Fällen wie Risse, Ablagerungen, Deformationen, usw. wird hingegen der Ingenieur durch die künstliche Intelligenz im Monitoring und Dokumentation unterstützt. Damit wird der Ingenieur nicht nur effizienter, auch seine Arbeit wird qualitativ hochwertiger. Der Ingenieur hat weiterhin mindestens die wichtige Kontrollfunktion.

 

Die vorliegende Erkennungs-Software ist so aufgesetzt, dass sich diese in ein bestehendes Inspektionstool wie beispielsweise KINS integrieren lässt. Die Bilddaten werden aus der Inspektionssoftware exportiert, durchlaufen den automatisierten Erkennungs- und Annotationsprozess und werden danach wieder in die Inspektions-Software importiert. Dort lassen sich dann die Bilddaten durch den Ingenieur kontrollieren, nachbearbeiten und dokumentieren.

 

Wenn Schäden besser und frühzeitiger erkannt werden, erfolgen Erneuerungen anstelle von Auswechslungen und weniger Sanierungen, die gar nicht nötig gewesen wären. Dies bringt Reduktionen der Sanierungskosten mit sich. Und auch für Mensch und Umwelt wird etwas getan: Qualitativ besseres Monitoring verhindert ungewollte Abwasseraustritte in die Umgebung und Infiltrationen bei Frischwasserleitungen.

 

Wir sind davon überzeugt, dass durch die Hilfe der künstlichen Intelligenz in Kombination der Pano-Technologie sich rund die Hälfte bis zwei Drittel der heutigen Erkennungsfehler eliminieren lassen. Einhergehend bei dieser Schätzung ist, dass auch visuelle Einschränkungen wie schlechte Beleuchtung, schlechte Bildauflösung oder schlechte Sicht durch Verschmutzungen sich verringern. Hier sollte sich über die nächsten Jahre die Aufnahme-Technologie verbessern bei vermehrtem Einsatze der Pano-Technologie.

 

[1] Sanierungsfall Abwassersystem, Max Maurer, Sabine Hoffmann | 21.05.2019

[2] Vollzug Umwelt, Mitteilung zum Gewässerschutz Nr. 42, Kosten der Abwasserentsorgung, 2003

[3] Richtlinie zur Kalkulation der Werterhaltungskosten von Abwasseranlagen, Seite 70, Umwelt und Energie (uwe), Kanton Luzern, 2019